Wende? War gestern…

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So stark sind die Erinnerungen. Jeder DDR Bürger weiß exakt was er im Moment der Maueröffnung getan und gefühlt hat. Jeder hat sein Polaroidfoto im Kopf. Auch ich. Ein Wechselbad von anfänglicher Ungläubigkeit und Euphorie. Ungläubig am Abend der geschichtsträchtigen Pressekonferenz zur Reisefreiheit. „Gilt ab sofort“, so interpretierte Schabowski seinen bekritzelten Zettel. Heute steht er auf dem Dachboden, mein roter Kofferfernseher. Marke JUNOST, ein sowjetisches Gerät. Als ich ihn nach der spektakulären Pressekonferenz am Knopf ausschaltete ahnte ich nicht was am Morgen life aus Berlin zu sehen ist. Tage später ging es zum Fischmarkt nach Hamburg. Nie in meinem Leben folgten großer Euphorie binnen weniger Monate auch pure Angst vor Betriebsschließung und Absturz ganzer Regionen. Auch in Schwedt. Wir setzten die erste freie BGL-Wahl im Betrieb durch. Als Vorsitzender der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) mit nur 24 Jahren und später Betriebsratsvorsitzender erlebte ich die sicher prägendste Zeit meines Lebens. Verantwortung für 180 Schwedter Mitarbeiter. Von 8000 Beschäftigten des stolzen DDR Kombinates Elektro-Apparate-Werk Berlin Treptow (EAW) hat die Außenstelle Schwedt, wenn auch mit weniger Mitarbeiten als einzigste überlebt. Respekt verdient jeder Einzelne in den sog. Neuen Ländern für seine Lebensleistung und das Durchstehen der extrem schweren 90er Jahre. Nach meiner Überzeugung kommt dieser Respekt auch 30 Jahre später zu kurz.